Predigt über 4. Mose 21,4-9
21,4 Da brach Israel auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege 5 und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise. 6 Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. 7 Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. 8 Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. 9 Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.
Nicht vierzig Jahre lang wie Israel in der Wüste, sondern 30 bis 40 Stunden dauerte die Flucht zehntausender Armenier aus der Enklave Bergkarabach nach Armenien im September 2023. Von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkt spielt sich ein Drama ab. Der Präsident Aserbaidschans postet Fotos von sich, den Fuß auf die armenische Flagge gesetzt. So geht Übernahme. Zuvor ließ er die einzige Zufahrtsstraße blockieren. Das Volk aushungern, mürbe machen, bis sie schließlich aufgeben und die Menschen der nicht anerkannten Republik Bergkarabach aus dem Land fliehen. Aus einem Land, das sie doch als das Ihre betrachteten. Sie verlassen nicht nur ihre Häuser und Felder, sondern auch die Gräber ihrer Angehörigen, ihre wunderschönen Kirchen und Klöster, ihre christlich geprägte Kultur.
Auch Familie Saksia mit ihren fünf Mädchen und fünf Jungen ist unter ihnen. In einem Fernsehbeitrag muss die älteste Tochter Ninelle sprechen, weil die Mutter es nicht übers Herz bringt. „Dort, wo wir gelebt haben“ – erzählt sie – „war es wie im Paradies“. Während sie das sagt, wendet sie sich weinend von der Kamera ab und lehnt ihren Kopf an die Schulter der Mutter. Sie bekommen in Armenien Unterkunft, mit vielen anderen leben sie in einem heruntergekommenen, ehemals sowjetischen Sanatorium. Sie will Köchin werden und ein eigenes Restaurant eröffnen. An der Grenze haben sie ihr das für sie so wertvolle Küchenmesser abgenommen. Von der ersten finanziellen Unterstützung durch den armenischen Staat kauft sie sich ein neues: das Versprechen einer neuen Zukunft.
An diese Bilder des letzten Herbsts muss ich bei der heutigen Wüstengeschichte denken. Israel ist unterwegs, geflohen aus Ägypten, Jahre lang, Wüstenzeit. Wüstenzeit, an deren Ende ein Versprechen wartet. Ein Land wie im Paradies. So wird es sein. Israel ist unterwegs, doch selten geht es geradeaus, oft machen sie Umwege, um etwas zu umgehen, um jemandem aus dem Weg zu gehen, so auch zu Beginn unserer Geschichte:
Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
Wir sind bei dieser Geschichte geneigt, die Auflehnung gegenüber Mose und sei-nem Gott in den Mittelpunkt zu stellen. Das murrende Volk, das nichts aushält, keine Geduld besitzt und Vertrauen verspielt leuchtet gleich ein und wird in den Wüstengeschichten ausgeleuchtet. Der Wunsch der Rückkehr an die Fleischtöpfe Ägyptens, das goldene Kalb, das sie sich bauen – beredte Zeugnisse der Auseinandersetzung eines immer wieder unter die Räder geratenen Volkes mit der Frage, warum Gott das zulässt und warum er nichts tut. Was will er denn mit uns, was hat er vor angesichts der Schlangen, die uns beißen. Das Bild von der Wüste als ein Bild ihres Elends und auch ihrer Zweifel an einem guten Gott. Wie groß die Ängste auf dem Weg sind, wie enttäuscht die Menschen, wenn Mose sie wieder vertröstet. Wie die Wut und die Verzweiflung in der Nacht noch größer werden als sie es bei Tageslicht schon sind. Und Schlangen, die den Ungeschützten nach dem Leben trachten, können in vielerlei Gestalt auftreten.
Ob unser Leben heute mit dem Weg durch die Wüste noch etwas zu tun hat? Ich erinnere mich an das Mädchen: „Dort wo wir herkommen, war es wie im Paradies.“ Unser Leben ist Leben unterwegs hin zu einem Ziel, das Gott verheißen hat. Der Weg ist noch nicht zu Ende. Die Schlangen beißen noch. Und wenn sie zubeißen, wird die Wüste sichtbar.
Armine Beglarian berichtet von der Flucht aus Bergkarabach: „Am Dienstag konnten wir gegen 22 Uhr in Kolonnen aus etwa sieben Autos endlich losfahren. Wir mussten durchs Grenzgebiet. Die Nacht war fürchterlich kalt. Die Menschen haben sich gegenseitig Sprit aus den Autos verteilt, damit niemand an einer gefährlichen Stelle stehen bleibt. Wir haben gebetet, entweder gerettet oder alle zerbombt zu werden. Als wir in diesen Karawanen durch die Wüste gefahren sind, musste ich dauernd an die Geschichten meiner Vorfahren denken, die 1915 mit ihren Koffern in den Todesmarsch geschickt wurden. Ich dachte: Das passiert uns jetzt auch, nur im 21. Jahrhundert.“
Die Worte tun weh, wie Feuer brennen sie in den Herzen der Menschen. Wieviel Trauer mag darin liegen, in der Panik des Aufbruchs und in dem Erschrecken, von Gott und den Menschen verlassen zu sein. Angesichts des Völkermords an den Armeniern vor 109 Jahren ist es nicht verwunderlich, wenn Menschen solche Empfindungen quälen. Wer interessiert sich jetzt noch für sie und für ein Land, das in so kurzer Zeit so viele Menschen aufnehmen und versorgen muss?
Die Worte tun weh, auch mir angesichts der Grausamkeiten in Bergkarabach und überall dort, wo Menschen gelernt haben, einander zu hassen. Wo Konflikte neu aufflammen und Menschen einander den Tod wünschen. Die Schlangen beißen zu, wo der Tod ins Leben hereinbricht. Wo Fluten und Dürre Leben zerstören, wo Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort sind, wo sie krank werden oder keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen. Denn es soll doch anders sein. Bei Mose in der Wüste und in den Träumen der jungen Ninelle. Was wird sie einmal ihren jüngeren Geschwistern erzählen über diese Zeit? Wird sie überhaupt darüber reden können
9 Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.
Was den Tod brachte, was vergiftete und Angst verbreitete, wird in der Mosegeschichte zum Lebenselixier. Die Schlangen bleiben. Sie beißen immer noch. Aber sie sind nicht tödlich für die, die das Abbild der giftigen Gefahr sehen. Wer zu der erhöhten Schlange blickt wird erinnert. Daran erinnert, dass Gott für sein Volk nicht den Tod in der Wüste will, sondern eine Zukunft im Land der Verheißung. Vielleicht könnte man etwas modern sprechen: Es geht um Aufarbeitung, um Konfrontation und Erinnerungskultur. Es geht darum, dass wir hinschauen, uns engagieren, für die verfolgten Christinnen und Christen in Armenien, für die christliche Gemeinde in Santa Clara auf Kuba und das Lugala-Hospital in Tansania. Nur in der direkten – und schmerzhaften – Auseinandersetzung mit den Schlangen liegt die Chance zum Überleben, zum Neuanfang, zum Freiwerden. Nur indem wir das anschauen, was uns und andere verletzt, erfahren wir Hoffnung und lernen das Vertrauen neu.
Ein neues, ein anderes Zeichen ist das Kreuz: Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden. Ein anderes Zeichen, aber kein anderer Gott. Die Bisse der Schlangen bekommen am Kreuz einen Namen. Sie sind sichtbar an dem armen, geschundenen Körper eines zu Unrecht Verurteilten. Verspottet und einsam stirbt er und wird zum Zeichen der Hoffnung. Der am Kreuz Erhöhte zieht unseren Blick auf sich, damit wir uns erinnern und Ausschau halten nach Zeichen der Hoffnung. Der Weg mit Gott geht weiter. Er ist da. Mitten in der Wüste.
Amen